Buchtipp: Family-Diary

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Weihnachtszeit, die Zeit der Wunder. 
Als Kind glaubt man in dieser Zeit ganz fest an Wunder. So ist ein Hauch von Nebel am Morgen und es ist das Christkind, das mit seinem Schlitten durch die Luft rauscht, der rote Himmel am Abend und man weiß, die Engelchen backen für das Weihnachtsfest. Und stecken nicht Mama und Papa mit dem Christkind unter einer Decke und helfen die Geschenke für das große Fest zu verstecken?
Ich liebte und liebe noch immer diese Zeit.

Genau deshalb möchte ich Euch heute die Weihnachtsgeschichte aus meinem Roman schenken. 

"Family Diary"
erschienen: 
2003: by Verlag videel
2005: BoD
ISBN: 978-3833457907 (erhältlich)

Genießen wir gemeinsam das zauberhafteste Weihnachten meiner Kindheit. Lasst Euch mitnehmen in den Taunus meiner Kindheit in den 50er Jahre.

Das Weihnachtsfest

Weihnachten gilt als das Fest der Feste. Zumindest war das bei uns zu Hause so. Sowohl mein Vater als auch meine Mutter sahen diesmal Weihnachten als einen willkommenen Anlaß, wieder einmal die ganze Familie um sich zu versammeln.
Da wir nicht nur Flüchtlinge der ersten Generation aus der DDR waren, sondern meine Eltern bereits im Kriege aus ihrer Heimat im Osten vertrieben worden waren und sich die Landkarte gerade in dieser Region stark verändert hatte, war solch ein Vornehmen, zumindest was die Seite meines Vaters betraf, ein spannendes Unterfangen.
Die Eltern meiner Mutter waren parallel zu meinen Eltern auch aus der DDR geflüchtet, in der sie seit ihrer Vertreibung aus Schlesien gelebt hatten. Die Mutter meiner Mutter, von uns Oma genannt, war am Anfang dieses Jahrhunderts geboren. Zu einer Zeit, als Österreich und Ungarn noch ein Königreich waren. Ihre Wiege lag am Neusiedlersee, auf der Seite, die heute zu Ungarn gehört. Sie hatte als ausgebildete Weißnäherin, im modernen Sprachgebrauch: Modedesignerin, ihre erste Stelle bei weitläufigen Verwandten, als Hausnäherin auf einem großen Gut in Schlesien, heute Tschechei, erhalten. Dort lernte sie auf einem Tanzfest im Nachbardorf, heute Polen, einen feschen, deutschen Offizier kennen. Gleich nach dem ersten Weltkrieg wurde geheiratet. Meine Mutter war das erste der insgesamt drei Produkten aus dieser Verbindung. Sie erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft und somit auch einen deutschen Paß. Da Beide katholisch waren, brauchte man sich in diesem Punkt wenigstens nicht zu einigen.
Bei den Eltern meines Vater sah es ähnlich aus. Nur das sich in ihrem Falle alles bereits vor der Jahrhundertwende abspielte. Hier traf ein österreichischer, sich auf der Walz befindender junger Barbier und Zahnarzt in Polen auf eine junge Dame aus besten Adelskreisen. Die Liebe der beiden war so groß, daß sie alle Hindernisse überwand, selbst die religiösen. Meine Großmutter war nämlich Jüdin, mein Großvater Katholik. Genau im Jahr 1900 gaben sich die beiden das Jawort und siedelten sich in einer Kleinstadt ohne Zahnarzt und Barbier an. Dieses Städtchen war gerade polnisch, wurde dann nach dem ersten Weltkrieg deutsch, danach wieder polnisch, um kurzzeitig, unter Hitler, wieder deutsch zu werden und nach dem zweiten Weltkrieg dann wiederum an Polen zu fallen.
Mein Vater behauptete immer, er hätte manchmal morgens beim Aufwachen nicht gewußt, ob er deutscher oder polnischer Staatsbürger sei. Das wäre auch der Grund gewesen, um sich bereits 1922 nach Berlin abzusetzen. Er besaß zu diesem Zeitpunkt gerade einen deutschen Paß. Seine Eltern blieben mit seiner Schwester zurück. Vor dem zweiten Weltkrieg starb mein Großvater. Wir lernten ihn nie kennen.
Da, wie gesagt, meine Großeltern mütterlicherseits bereits im Westen verweilten, war eine Einladung in ihre Richtung ein leichtes. Was eine Einladung an meine Großmutter väterlicherseits bedeutete, die noch stets in Polen lebte, kann man sich heute, Gott sei Dank, nicht mehr vorstellen. Sie hatte bereits ein Alter von beinahe 80 Jahren erreicht und durfte unter bestimmten Voraussetzungen zu Besuch in den Westen reisen.
Die erste Bedingung war, daß sie eine schriftliche Einladung vorweisen konnte, die von einer offiziellen Stelle bestätigt war. Die zweite Bedingung war, daß ihre Tochter, inzwischen 58 Jahre alt, nicht mitreiste, sondern sich bei den polnischen Behörden jede Woche einmal meldete. Dann waren da noch zahllose Anträge auszufüllen, Geld zu überweisen, Sicherheitsleistungen zu erbringen, Visa abzuwarten und schließlich einen Zug zu finden, der meine Großmutter von Tichau, via Kattowitz, Warschau, Berlin, nach Frankfurt/Main brachte.
Keiner hatte es zu glauben gewagt, aber eines Tages, so etwa eine Woche vor Weihnachten, war es so weit. Wir erhielten, über das Bürgermeisteramt unseres Dorfes, vom polnischen Konsulat die Mitteilung, daß wir am nächsten Tag um 17.00 Uhr meine Oma am Hauptbahnhof in Frankfurt erwarten könnten.
Da es später Nachmittag war, als uns der Bürgermeister diese Nachricht persönlich überbrachte und auch erst nach einer Reihe guter Schnäpse, als Dank für diese gute Nachricht, verließ, blieb nicht mehr viel Zeit, um große Vorbereitungen zu treffen.
Meine Mutter war noch nervöser, als sie ohnehin schon immer war. Nur klappte dieses Mal ihre seit Jahren eingeübte Haltung: "...mir geht es nicht gut, nun muß ich mich erst mal hinlegen", hier nicht. Sie mußte wohl oder übel die Sache in Angriff nehmen. Zumal sie auch zum allerersten Mal ihrer Schwiegermutter gegenübertreten sollte. Da sowohl mein Vater, wie auch meine Mutter in zweiter Ehe verheiratet waren, und sie wußte, daß die erste Schwiegertochter, eine polnische Jüdin, sehr beliebt gewesen war, gab es für meine Mutter noch mehr Ängste bei dieser Begegnung, als normalerweise beim ersten Zusammentreffen von Schwiegermutter und Schwiegertochter ohnehin schon bestehen.
Also beorderte meine Mutter am nächsten Morgen das gesamte Personal: das Kindermädchen, die Köchin und die Putzfrau, ins Wohnzimmer, um einen kurzen und effektiven Schlachtplan zu entwerfen. Alle zusammen würden sie es irgendwie schaffen. Mein Vater erhielt die Anweisung, er solle alleine, höchstens mit einem der Kinder, seine Mutter von der Bahn in Frankfurt abholen. Da es von unserem Dorf bis nach Frankfurt eine gute Stunde mit dem Auto war, der Zug so kurz vor Weihnachten ganz bestimmt Verspätung hatte und der Rückweg, gesehen der winterlichen Witterung und der späten Stunde länger als eine Stunde dauern würde, könnte sie dann wenigstens das Nötigste zur Vorbereitung des Besuches schaffen.
Gesagt getan, mein Vater willigte in diesen Plan ein. Ich denke er war nur zu froh, seine Mutter nach immerhin 20 Jahren erst mal alleine für sich zu haben. Da meine Schwester, wie so oft, mit vereiterten Mandeln im Bett lag, mein Bruder noch zu klein war, mein Vater aber gerne Gesellschaft haben wollte, wurde ich dazu bestimmt, ihn zu begleiten. Das tat ich nur zu gerne. Ich liebte es, mit meinem Vater zusammen im Auto zu fahren, besonders wenn es dunkel war. Dann phantasierte ich von all den Monstern, die in der Dunkelheit rechts und links am Auto vorbeiglitten, uns aber nichts anhaben konnten, da mein Vater, als moderner Erlkönig, den finsteren Mächten trotzte.
Wir kamen pünktlich in Frankfurt an. Die Fahrt war ohne Probleme verlaufen und Parkplatzprobleme gab es damals auch noch nicht. Auf dem Bahnsteig, man mußte damals  noch eine Bahnsteigkarte lösen, war der Zug auf den Schildern nicht vermeldet. Also erklärte mir mein Vater die An- und Abfahrpläne, die Bahnsteigeinteilung und die Einteilung der Züge in erste, zweite und dritte Klasse, besser bekannt als Holzklasse. Der Zug aus Berlin war noch stets nicht auf den Schildern vermeldet.
Wir gingen ins Bahnhofsrestaurant, um hier etwas zu essen, denn inzwischen war ich sehr hungrig geworden.. In einer Ecke saß eine wunderschöne, weißhaarige, alte Dame. Sie hatte einen traumhaften Hut auf, genau so ein Modell, wie man es auf alten Fotos aus den zwanziger Jahren sah. Ein kleiner Schleier mit Pünktchen verdeckte zur Hälfte ihr Gesicht. Doch bemerkte ich, daß sie mir amüsiert zuschaute, wie ich mein Lieblingsessen, Bockwurst mit Brötchen, hungrig in mich hineinstopfte. Dann ließ mich mein Vater alleine, um sich bei der Auskunft, die damals noch funktionierte, nach dem Zug aus Berlin zu erkundigen. Ich lächelte dieser tollen, schwarzgekleideten, vornehmen Dame zu. Das machte man ja eigentlich nicht bei Fremden, aber diese Frau sah der Königin in meinem Märchenbuch halt sehr ähnlich, und da durfte man schon mal. Zudem war es kurz vor Weihnachten und da war ja selbst das Christkind unterwegs, warum nicht auch eine Königin?
Mein Vater erschien wieder, um mir mitzuteilen, daß irgendetwas ganz falsch war. Der Zug aus Berlin war schon eine Stunde früher eingetroffen. Der Bürgermeister hätte da wohl eine falsche Zeit an uns weitergegeben. Er wolle nun zu einer Stelle laufen, da könnte man durch ein Mikrofon die Leute aufrufen. Das wolle er nun versuchen und ich solle mitkommen, da das doch sicher ganz spannend für mich sei. Ich winkte also der Dame zum Abschied und folgte meinem Vater.
Nach dem Durchruf plazierten wir uns gut sichtbar bei der Information. Hoffentlich war meine Großmutter überhaupt gekommen. Was, wenn nicht? Ach, meinte mein Vater, dann haben wir wenigsten dieses Jahr den Weihnachtsputz mal vor dem 24. Dezember geschafft. Während wir noch so sprachen, kam quer durch die große Halle des Bahnhofs die wunderschöne Dame aus dem Restaurant auf uns zu. Ich registrierte, daß sie groß und schlank war und sehr gerade ging, trotz ihres Alters. Sie stellte einen ganz kleinen Koffer vor den Füßen meines Vater auf den Boden und schaute ihn lange an. "Georg???" fragte sie und dann noch etwas, was ich nicht verstand. Mein Vater, eine sehr imposante Figur, wenn auch klein und dick, ging der Dame nur bis an die Schulter. Er war sehr, sehr irritiert und antwortete etwas, was ich schon wieder nicht verstand, außer dem Wort: Mama. Sie fielen sich in die Arme und die Dame weinte. Etwas später schob er mich an den Schultern nach vorne, um mich in einem Redeschwall der Dame vorzustellen. Ich gab ihr meine Hand und machte einen Knicks, wobei ich in einer Sprache angesprochen wurde, von der ich bis zu jenem Tage nicht gewußt hatte, daß sie überhaupt existierte.
Wie sich herausstellte, war sie meine polnische Großmutter, die zwar vor langer Zeit fließend deutsch gesprochen hatte, aber seit dem Ende des zweiten Weltkrieges nicht mehr, da es unter Androhung von Strafe verboten war. Da nun noch all die Emotionen hinzukamen, wollte es ihr gar nicht mehr gelingen. Mein Vater, der seit genau dieser Zeit kein Wort polnisch mehr gesprochen hatte, mußte nun wohl oder übel wieder in dieser Sprache mit ihr reden.
Die Heimfahrt dauerte noch länger, als meine Mutter es geplant hatte, da mein Vater bei all dem Erzählen ein paar Mal an Kreuzungen die falsche Straße nahm und wir somit meiner Großmutter, wenn auch unfreiwillig, den wunderschönen Taunus bei Nacht zeigten.
Zuhause erwartete uns der Rest der Familie schon ganz ungeduldig. Meine Mutter hatte es nicht nur geschafft den gesamten Hausputz hinter sich zu bringen, nein, es gab auch etwas zu essen.
Angesichts der Tatsache, daß meine Mutter kein Wort polnisch sprach, verlief das erste Zusammentreffen eher wundervoll komisch, als zurückhaltend. Wir waren alle bemüht, uns in einfachsten Sätzen zu unterhalten. Großmutter wiederum versuchte all die zwanzig Jahre aufgestauten Emotionen in einer deutschen Sprache unterzubringen, derer sie nicht mehr mächtig war. Wir erlebten in den nächsten Tagen die wunderschönen Beschreibungen unserer alltäglichen Dinge. So wurde unser Badezimmer zum "Näslichraum" und die Küche wurde dank meiner Großmutter "Kochenraum". Der Vorratskeller erhielt die Bezeichnung "Kartoffelaufhalteraum" und unsere Waschküche wurde zur "Sauberwascher".
Zwei Tage später trafen meine Großeltern mütterlicherseits ein. Nun nahm das Sprachenwirrwarr eine unglaubliche Form an. Mein Vater sprach meine Mutter in polnisch an, woraufhin die nicht reagierte. Meine Mutter wiederum, sprach ihre Mutter in deutsch an, da aber meine Oma mit meiner Großmutter in einer Art Wolgadeutsch kommunizierte, was ihre ganze Konzentration erforderte, ignorierte sie meine Mutter. Daraufhin antwortete mein Opa meiner Mutter, was nun meine Oma irritierte. Das veranlaßte meinen Vater, schlichtend einzugreifen. Wenn ich mich richtig erinnere, sprach er nun englisch. Die Seite meiner Mutter beherrschte Italienisch, aber kein Englisch, was uns also auch nicht weiterhalf.
Und endlich, trotz all der Sprachverwirrungen, war es doch noch geschehen, der Heilige Abend war gekommen. Nach dem Abendessen sollte die Bescherung stattfinden. Das Essen, eine Hommage an all die Kulturen am Tisch, verlief sehr harmonisch, wenn auch ungewöhnlich laut, durch all die von Lachen begleiteten Artikulationsschwierigkeiten. Nach dem Bigush und dem Karpfen, wollten meine Eltern als Höhepunkt zum ersten Mal einen Truthahn servieren. Stunden hatten die drei Frauen der Familie zusammen in der Küche verbracht. Nun war es meiner Oma vorbehalten, den Truthahn hineinzutragen.  Mein Opa zündete die Kerzen am Baum an. Die großen Flügeltüren des Eßzimmers schwangen auf und Oma balancierte den Vogel auf einer Silberplatte hinein. Meine polnische Großmutter stand auf und stimmte das Lied: "Oh du fröhliche" mit einem leicht tränenverschleierten Blick an. Wir alle sangen dieses uns verbindende alte Lied, als meine Oma mit ihrem nicht gerade zierlichen, verlängerten Rücken am Engelshaar hängenblieb, das den Tannenbaum bedeckte. Da sie nichts bemerkte, zog sie in einer Art feierlicher Zeitlupe das Engelshaar vom Baum und wie eine Schleppe hinter sich her in Richtung Tisch. Das war aber nicht im Sinne des Baumes, der seinerseits nicht bereit war, den Schmuck herzugeben. Die ersten Glaskugeln fielen scheppernd auf den Parkettboden. Der Baum wankte, geriet in eine Schieflage und drohte nun umzukippen. Die Flammen der Kerzen fanden Nahrung an den Zweigen und - nun stolperte auch noch meine Oma. Der Text des Weihnachtsliedes blieb uns im Halse stecken. Wir verwandelten uns in Salzsäulen. Mein Vater erwachte als erster aus der Erstarrung und fing den Truthahn. Mein Opa fing meine Oma auf und meine Mutter zog mit spitzen Fingern die inzwischen auf der Kredenz gelandete Silberplatte aus den dort aufgestellten Kerzenleuchtern.
Unbemerkt von uns Allen hatte sich meine Großmutter ins Badezimmer begeben und einen Eimer Wasser geholt. Den Inhalt goß sie in weitem Schwung von hinten über den brennenden Weihnachtsbaum und meine Oma. In deutlichstem und perfektestem Deutsch, für alle verständlich, sagte sie: "Scheiße".
Dieses Weihnachtsfest war so wundervoll chaotisch, wie kein anderes. Meine polnische Großmutter habe ich danach nie wiedergesehen, aber sie blieb uns Kindern in der Erinnerung als die Frau, die am überzeugendsten "Scheiße" sagen konnte.            

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