Mein erstes Atelier


Mitte der 80er Jahre war es an der Zeit aus unserem Wohnhaus in mein erstes eigenes Atelier umzuziehen. Auch um meine beiden Tätigkeiten, Modedesign und Kunst, für meine Kunden besser sichtbar zu trennen. Zumal ich immer mehr mit meiner Mode in der Öffentlichkeit wahrnehmbar wurde.

In einem Viertel, das zu Beginn der 50er Jahre errichtet worden war am Rande der Innenstadt von Venlo, in dem sich alte Fabriken und Wohnungen für Arbeiter befanden, fand ich in einem ehemaligen Milchladen, direkt im Erdgeschoss eines Wohnblocks, eine günstige Räumlichkeit.

Nach Renovierung, mit viel Liebe zum Detail, bezog ich das Atelier. 
Im vorderen Ladenlokal stand mein Arbeitstisch direkt vor dem großen Schaufenster. Vorbeieilende konnten mir bei der Entwicklung meiner Kollektionen zuschauen und wer wollte, der konnte sich auch gleich sein Kleidungsstück bestellen.
Im hinteren Teil des Ladenlokals war ein zweiter Raum, in dem mein Zuschneidetisch und die Umkleideräume für meine Kunden befanden.  
Doch die wahren Schätze, meine Skizzenbücher, Schnittmuster, Stoffe, Bänder, Perlen und Pailletten, befanden sich im Keller.

Eine Zeit der extremen Inspiration, angefüllt durch das lebhafte Treiben auf der Straße. Meine ersten Kollektionen entstanden, wurden auf Modemessen gezeigt und erhielten Preise.
Der Kontakt zu den Menschen hier war etwas rau, aber immer herzlich. Ja, sogar heute noch werde ich von ehemaligen "Nachbarn" erkannt und angesprochen. 

 

In den 90er Jahren zeichnete sich ab, dass dieses Viertel eine neue Bestimmung erhalten sollte.
Zuerst hieß es, hier wird renoviert und modernisiert. Aber schon bald zeigte sich, dass die gesamte Infrastruktur nicht mehr zeitgemäß war. 
Erste Pläne wurden gemacht und wieder verworfen, was eine Zeit der Unsicherheit für die Mieter bedeutete. Dann hieß es plötzlich, dass wir für den Zeitraum des Modernisierens "ausquartiert" werden sollten. Bis endlich deutlich wurde, ein gänzlicher Abriss und großzügiger Neubau des kompletten Viertels ist die beste Lösung. 
Die Mieter der Ladenlokale wurden mit dieser neuen Situation konfrontiert. Jeder suchte sich seine passende Lösung anderswo. Auch ich verließ mein Atelier und machte erst PopUp-Läden und schließlich Leerstand Platz.


In den 2000er Jahren begann auch das große "Entleeren" der Mietshäuser. Wer irgendwie konnte, suchte sich eine neue Wohnung, andere warteten auf Umsiedlung durch den Vermieter. Der freikommende Wohnraum wurde nicht wieder neu vermietet, aber um Vandalismus zu vermeiden, wurde durch "Verfügungstellung von Wohnraum" an Studenten, mit sogenannter "Kurznutzungsregelung", die Optik des Leerstands kaschiert.  

Mitte der 2010er Jahre rückten die Bagger an um die ersten Wohnblocks nieder zu reißen. Eine ganz neue Siedlung mit Parkanlage und Spielplätzen war endgültig geplant und sollte nun schnell realisiert werden.

 

Hier sollten klimaneutrale Häuser und Wohnungen gebaut werden, ganz modern und mit vielen technischen Extras, sowohl im Kauf-, wie auch im Mietsektor. Aber die Preise würden für viele der ehemaligen Bewohner über den Möglichkeiten liegen. Auch wurden die in den ersten Planungen noch vorhandenen Ladenlokale gestrichen.


Dann traf auch mein altes Atelier die Abrissbirne.
An einem Sommermorgen 2018 schaute ich voller Emotionen dieser Vernichtung zu. Wie immer begleitet von meiner Kamera. 
Ein alter Nachbar trat zu mir und lud mich ein, am Abschieds-Kaffeetrinken der ehemaligen Bewohner teilzunehmen. "Du warst doch eine von uns!" 
Und so kam es, dass ich ein letztes Mal mit diesen Menschen, zwischen den Baggern, an einem Campingtisch ihren mitgebrachten Kaffee trank und selbstgebackenen Kuchen aß. Dabei einige Tränchen vergoss und wundervolle Erinnerungen vorbeiziehen ließ. 
Das Kapitel schloss sich für immer. 

Nun, sind weitere Jahre ins Land gegangen, Corona hat so manches verzögert. Aber als ich gestern durch das neue Viertel ging, .... 

 

... zeigte sich ganz deutlich die neue Struktur. 
Die ersten Häuser sind bereits bezogen, andere warten auf die neuen Bewohner. Aktuell werden die Wege angelegt, Bürgersteige gepflastert. Bäume und Sträucher für den neuen Park warten auf ihren Pflanztermin.

 

Ein allerletzter Wohnblock, wie ein gestrandeter Seelenverkäufer, mit leeren Ladengeschäften, steht inmitten dieser erneuerten Umgebung.


Dieses Viertel ist mir fremd geworden. Man könnte fast die Orientierung verlieren. 
Aber dann entdecke ich doch die Stelle, an der mein altes Atelier gewesen ist.


Hier sind Reihenhäuser entstanden. 
Ich hoffe, dass die Familie, hier an dieser, meiner ehemals sehr kreativen Stelle, glücklich wird.  

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