Vergangene Glorie


Am Morgen erwartete uns ein reichhaltiges Frühstück im Wintergarten mit der Familie. Bei Brötchen und Kaffee lernten wir auch die Tiere der Familie kennen.
Nicht nur ein Hund gesellte sich zu uns, auch drei Katzen, zwei Papageien und ein Wellensittich bevölkerten den Raum. Aus dem Garten meldeten sich lautstark zwei Gänse. Alle diese Tiere waren der Familie zugelaufen oder man hatte sie irgendwo beim Einkaufen und Spazierengehen gefunden. Jedes erhielt seine Portion in seinem Napf zum gemeinsamen Frühstück. Madame war fast schon im Stress bei so vielen Mäulern, die gefüttert werden wollten. 
Wir mussten aufpassen, dass wir uns nicht zu wohl fühlten in dieser Idylle und einfach blieben.

Als wir aufbrachen, erhielten wir ein Lunchpaket, das unsere Gasteltern extra liebevoll für uns zusammen gestellt hatten.
Noch schnell ein Foto und – wir werden wieder kommen und natürlich werden wir auch gerne eine Kerze in Santiago für unsere Gasteltern anstecken!

 

Zuerst wurde noch das wichtige Bushäuschen dokumentiert, das bereits viel bessere Zeiten gesehen hatte. Danach ging es über die Brücke zurück nach Visé und damit zurück auf die Strecke aus unserem Büchlein, die weiter am Ufer der Maas verlief.



Interessante Einblicke in Hinterhofidylle und auf Erweiterungsanbauten, eine Spezialität der Belgier, wurden uns gewährt. Jeder, der bereits an diesem frühen Vormittag in seinem Garten werkelte, wollte mit uns plauschen. Keiner war erstaunt, dass man läuft, auch nicht bis Santiago, nein das Warum, das interessierte all die Menschen. Oft wurde uns ein Kaffee angeboten, ja, man fragte uns sogar, ob wir nicht auf einen Kuchen oder kleinen Snack bleiben wollten.


 

In Richelle greifen erstmals die Felsen der Ardennen wie knochige Finger direkt nach dem Strom. Es wird eng im Maastal. Mit dem Fluss, der Eisenbahn und der Autobahn teilten wir uns die Strecke. Kein Traumwanderweg, aber sehr interessant. Wir waren Bestandteil der großen Menge von Menschen und Gütern, die sich an dieser Stelle durch Europa bewegen.



Einige Kilometer später lag die Strasse aufgebrochen vor uns. Das Bushäuschen war mit all dem Bauschutt zugekippt. Aber, so konnten wir an der zurückgelassenen Wasserflasche sehen, es wurde aktiv benutzt. 

 

Die Häuser, die hier an der anderen Seite der Straße standen, waren heruntergekommen, teilweise sogar unbewohnbar. Aus den zerbrochenen Fenstern wehten graue, zerrissene Gardinen. Nur die Schilder „A VENDRE“ suggerierten Geschäftigkeit. In einigen der Häuser dazwischen lebten noch Menschen, hatten Blumen in Kästen an die Fenster gehangen und trotzten dem Verfall. Eine surrealistische Szenerie.

 

Inmitten des Ortes Argenteau lud ein kleines Café mit seiner Mini-Terrasse zur Pause in der Mittagssonne ein. Das Café war vollbesetzt, es schien der Treffpunkt des Ortes zu sein. Wir wurden trotzdem von allen sehr herzlich begrüßt. 
Zum großen Bedauern des Patrons konnte er uns leider nur ein "Croque Monsieur a la Begique" oder "Croque Madame a la Belgique" anbieten. Wie groß war unsere Überraschung, als wir keinen Imbiss, sondern eine vollständige kleine, ungewöhnlich gute Mahlzeit erhielten. Der Patron erklärte mir gerne, worauf man bei einem "Belgischen Croque Monsieur oder Croque Madame" zu achten habe. 
Damit war das Gespräch mit allen Gästen eröffnet. Und wieder dieses große Interesse an unserer Wanderung. Im Tausch für unsere Erzählungen spendierte man uns gerne eine Tasse Kaffee. Als Zugabe bekamen wir dann auch noch Informationen zum Alltag hier in dieser "Vergangenen Glorie". Ja, sie waren einst der Stolz Walloniens, die Bergleute der "Königskohle", ohne sie ging gar nichts. Damals, als man noch ihre Kohle aus Argenteau über die Maas in alle Teile Belgiens verschiffte.



Draußen vor der Tür breitete sich die steingewordene "Vergangene Glorie" Walloniens aus. Verwahrloste, aber wunderschöne Jugendstilhäuser, kleine Parks der Belle Epoque, überkrönt von einem Förderturm der ehemaligen Kohlenhütte, im Stil eines Romantikschlosses. Er könnte jedem Disneyfilm als Kulisse dienen. Auch Tim Burton würde hier für seinen nächsten Film die absolut ideale Szenerie finden.


Der Weg wand sich weiter am Rande der Felsen hinauf und hinunter, schlängelte sich dann wieder eng angeschmiegt an der Maas entlang und führte uns in die ersten Vororte von Lüttich, wo sich die "Maasroute" nahtlos in die "Via Mosana" fügte.



Während ich wieder eines der Bushaltehäuschen aus der Mitte der Straße fotografierte, die Straße war sehr stark frequentiert, hielt ein Auto mit dem Zeichen der Verkehrsbetriebe direkt vor mir. Ohne sich um das einsetzende Hupkonzert der Autofahrer rings um uns zu kümmern, steuerte der ausgestiegene Fahrer auf mich zu.
"Was machen sie da? Wissen sie nicht, wie gefährlich es ist?", wollte er wissen.
Ich erklärte und sah plötzlich in ein glücklich strahlendes Gesicht.
"Einen Augenblick bitte, Madame, da werde ich ihnen und der Kunst natürlich helfen!", sprach er und dirigierte den Verkehr um mich herum, so dass ich ungestört meine Fotos machen konnte. Selbst der ankommende Bus musste warten und durfte nicht auf sein eingezeichnetes Feld einbiegen.
Danach fuhr er in seinem Auto voraus zur nächsten Bushaltestelle mit Wartehäuschen, keine 2 km weiter und regelte da für mich den Verkehr.
Nach Beendigung meiner Fotosession schrieb er sich die Internetadresse des Kunstprojektes auf.
"Man muss doch sehen, was sie daraus gemacht haben!" und verabschiedete sich, nicht ohne uns eine wundervolle weitere Wanderung gewünscht und mir das Versprechen abgenommen zu haben, eine Kerze für ihn in der Basilika in Spanien zu entzünden.

 

Die Kondition des Mannes an meiner Seite war verbraucht. Er wurde immer langsamer, sein Bein, aus dem die Venen für seine Bypässe entnommen worden waren, immer dicker. Der verstauchte Fuß schmerzte auch wieder. Es war deutlich, seine Leistungsfähigkeit würde sich auch so schnell nicht regenerieren, ein Tag Pause nicht ausreichen, um weiter zu laufen. 
Ich bewundere immer wieder, wie gut er sich als Herzpatient bei diesen Wanderungen hält. 
Zudem zeigte unser Kilometerzähler bereits wieder 19,9 km. Also deutlich: genug ist genug. 

In einem kleinen Cafe beschlossen wir, hier und heute unseren Endpunkt für diese Etappe zu setzten. Wir hatten und haben Zeit, uns hetzte und hetzt doch keiner.
Der Weg ist das Ziel.
Außerdem zog sich der Himmel bedrohlich zu. Gewitterwolken bildeten sich, es wurde zunehmend schwüler.


Durch den damals noch immer nicht abgeschlossenen Bau des neuen Gare Central, dem Bahnhof Liège-Guillemins, waren bereits stillgelegte Bahnhöfe doch noch als Nothaltepunkte in Betrieb.
Unser Zug nach Maastricht über Visé fuhr deshalb von Lüttich-Bressoux ab.

Das Gebäude lag verlassen und vernagelt in der trüben Nachmittagssonne. Kein Fahrkartenautomat, aber eine mobile Informationsmöglichkeit, aus einem Auto heraus. Im Innenraum ein Angestellter der Belgischen Bahn.
"Stellen Sie sich einfach auf den Bahnsteig am Gleis Nr. 2, der Zug wird dann halten. Es dauert nicht mehr lange. Die Fahrkarte lösen sie einfach im Zug. Unsere Schaffner wissen Bescheid. Ihnen eine gute Heimreise."


Wir fuhren zwischen den Ruinen der Hochindustrie des letzten Jahrhunderts hindurch zurück in Richtung Venlo. Der Anblick dieses gesteuerten Verfalls, verstärkte das Gefühl von Endlichkeit. Voller Trauer blickte ich aus dem Fenster durch den einsetzenden Regen .

Das nächste Mal würden wir ab diesem verlassenen Bahnsteig unsere Wanderung wieder aufnehmen. Die Maas würde auch weiterhin unsere Strecke begleiten. Welche Überraschungen hatte sie uns noch zu bieten?
Die Menschen, die wir an diesen letzten Tagen getroffen hatten, waren die Anstrengungen wert. So viel Liebe, Großzügigkeit und Interesse an Vorbeiziehenden mit einem Rucksack auf dem Rücken. 
Nein, das hatten wir gerade auf dieser Teilstrecke nicht erwartet.



In Venlo begrüßte uns eine sanfte Abendsonne. Wir freuten uns auf unser Zuhause. Gleichzeitig war da die Frage:
Wann würden wir den Weg wieder aufnehmen?

Kommentare