Verlegte Straßen


Als an diesem Morgen der Wecker läutete, stellte ich fest, dass sich wieder, wie bereits bei der ersten Etappe, vergessene Muskelgruppen meldeten. Also würde es wohl heute eine Kurzstrecke werden. Der Mann an meiner Seite murmelte derweil unverständliches unter seiner Decke hervor. Scheinbar wollte er liegen bleiben. Dabei hatten wir beide sehr gut geschlafen.

Nach dem Duschen sah die Welt, unter einem strahlend blauen Himmel, bereits ganz anders aus, teilweise zumindest. Sein Fuß, den er am gestrigen Tag auf den letzten Metern verzerrt hatte, schmerzte doch sehr. Schauen wir also mal wie es werden würde.

Zuerst aber setzten wir uns an einen reichhaltig gedeckten Frühstückstisch und begannen mit dem freundlichen Herrn, der an diesem Morgen Dienst hatte, zu philosophieren. Er war fasziniert von unserem Vorhaben, gab aber unumwunden zu, ihm fehle der Mut zu solch einem Unternehmen. Was alles auf so einer Strecke passieren könnte. Da nützte es auch nicht, wenn er genau wie wir das Ziel in Etappen versuchen würde, zu erreichen. Nein, das war nichts für ihn.
Als wir aufbrachen, bat er uns in der Kathedrale von Santiago eine Kerze für ihn und seine Familie anzustecken. Auch diese Bestellung wurde im Wander-Tagebuch notiert.

 

Wenig später waren wir zurück auf der Strecke, die direkt mit der Bewältigung eines größeren Hügels – die Niederländer sagen bereits Berg – begann. Weitere sollten die nächsten Stunden folgen und jedes Mal erwartete uns auf der Spitze ein grandioser Ausblick.

 

Die Temperaturen kletterten mit uns und so suchten wir gezielt immer wieder Bänke im Schatten auf, zumal sich der Fuß beim Mann an meiner Seite immer deutlicher meldete. Aber da wir immer wieder auf interessante Menschen trafen, entstanden Pausen mit interessanten Gesprächen und der Fuß dankte es. Jeder unserer Zufallsbekanntschaften hatte so seine eigene Philosophie zum Wandern und dem Ziel Santiago de Compostela.

Irgendwann hatten wir den Scheitelpunkt der Hügellandschaft überschritten und von da an ging es nur noch sanft bergab.


Die Strecke war bei Ulestraten wegen Straßenbauarbeiten komplett abgeschlossen und so wichen wir um einige hundert Meter auf eine Parallelstrecke aus.

Als ich mal wieder ein Bushäuschen an der Strecke fotografierte, sprach mich eine Frau an. Sie war an meinem Tun und dem Zweck des Fotos sehr interessiert. Man sieht ja auch nicht jeden Tag eine Person, die erst sorgfältig die Mitte der Bushaltestelle bestimmt, um dann einige Schritte nach vorne zu laufen und eine Position einnimmt, „nur“ um ein Bushäuschen zu fotografieren.
Beim  Stichwort Santiago war sie nicht mehr zu halten. Hatte doch ihre Mutter vor 60 Jahren diese Wallfahrt zu Fuß gemacht. Sie hatte damals bereits 10 Kinder und wollte keine mehr. Es entwickelte sich eine interessante Betrachtung über Verhütung. Hätte ich sie gelassen, dann hätte sie mir das Familienfotoalbum geholt, so gut war sie mit ihren Erzählungen in Fahrt gekommen.

Für uns aber war die interessanteste Erkenntnis, dass die Dame mit hundertprozentiger Sicherheit  wußte: ... Damals verlief die Strecke genau über diese Straße, auf der wir jetzt stehen.
Wieder solch ein verlegtes Stück, dieses Mal halfen uns die Straßenbauarbeiten.


Wenig später, in Meerssen, waren wir zurück auf der Strecke des offiziellen Führers in unserer Hand und gleichzeitig zurück auf dem Niveau der Maas.
Wir mussten uns aber erstmal stärken.

Wie auf Bestellung fanden wir ein Café mit einem liebenswerten und redefreudigen Besitzer, der unsere Frage nach einer Übernachtungsmöglichkeit mit dem Hinweis auf die nahe gelegene Stadt Maastricht beantwortete. Der Fuß des Mannes an meiner Seite sollte nun auch nicht mehr all zu lange belastet werden, wir wollten den heutigen Tag eigentlich hier abschließen.
Maastricht, das wären noch ca. 8 km. Da unterstellte ich, dass das Touristeninformationsbüro mir besser helfen könne. Ich ging die wenigen Schritte hinüber und ließ hier die beiden freundlichen Damen ihren Job tun. Nur leider zauberten deren Bemühungen auch nur eine freie Übernachtungsmöglichkeit in Maastricht hervor. Die Saison hat begonnen und da waren die wenigen B&Bs an der Strecke bereits ausgebucht.


 

Also würden wir die letzten Kilometer bis Maastricht doch noch heute laufen müssen. Aber sie reservierten für uns bereits ein Zimmer in der neuen Jugendherberge und vermeldeten zur Sicherheit auch noch, dass wir langsam laufen!


Die zu diesem Zeitpunkt neue Jugendherberge „Stayokay“,  direkt an der Maas, gegenüber dem Bonnefantenmuseum gelegen, hielt für uns eine Überraschung bereit: Doppelzimmer mit Dusche und wenn wir wollten, heute auch die Wahl aus drei verschiedenen Abendessen.
Wenig später saßen wir auf der hauseigenen Terrasse, die über die Maas hinausragt, mit einem köstlichen Fruchtsaft-Cocktail in der Hand und genossen den lauen Abend. 


 

Der Mann an meiner Seite kühlte seinen schmerzenden Fuß. 
Ich schlug vor, er solle morgen nach Venlo zurückkehren und ich würde von hier aus alleine weiter ziehen. Aber davon wollte er nichts wissen. "Nein!" entschied er, "Wir werden morgen erst schauen, wie es so mit dem Fuß geht. Im Zweifelsfall werden wir ganz einfach einen Ruhetag einlegen. Maastricht ist doch wunderschön, die Unterkunft hervorragend und die Terrasse einfach traumhaft. Also, schauen wir was morgen ist."


Da man hier über eine Großleinwand verfügte, bestaunten wir mit einer internationalen Gesellschaft später im "Tagungssaal" die Fußballkünste der Niederländer bei der "Fußball-Europameisterschaft". Die Müdigkeit überfiel uns jedoch sehr schnell, was aber gar nichts mit dem Einsatz der Spieler zu tun hatte. Hatten wir doch wieder 14, 5 km zurückgelegt und dabei die sommerlichen Temperaturen von 26,5° C als Begleiter gehabt. 

Gute Nacht liebe Mitgäste. Morgen würden wir beim Frühstück erfahren, wer gewonnen hat.


Beim Einschlafen kam mir plötzlich ein Gedanke: Wie oft würden wir verlegte Straßen und neue Strecken in der nächsten Zeit noch laufen? 
Aber damit war ich dann auch bereits eingeschlafen.

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